SINUS-Jugendstudie 2020: Von Experimentalisten und Postmateriellen

Wie Jugendliche ticken: Austausch mit Dr. Christoph Schleer vom SINUS-Institut zur Herausforderung der Berufswahl

Jugendliche sind keine homogene Masse: Sie alle haben unterschiedliche Interessen, Talente und Wertvorstellungen. Für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stellt sich mithin die Frage: Wie können potentielle Nachwuchskräfte, die zum Unternehmen passen, erkannt und gezielt angesprochen werden?

Darüber haben sich auf Einladung der Wirtschaftsvereinigung der Grafschaft Bentheim e.V. (WV) jüngst Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitskreise Personal und SCHULEWIRTSCHAFT sowie weitere Interessierte der Mitgliedsunternehmen mit einem Experten ausgetauscht: Unter dem Leitgedanken „Wie ticken Jugendliche? Welche Erwartungen haben Jugendliche an Beruf und Unternehmen?“ stellte Wirtschaftswissenschaftler Dr. Christoph Schleer vom SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung in Heidelberg den Teilnehmenden der Online-Zusammenkunft die Erkenntnisse aus der aktuellen SINUS-Jugendstudie 2020 vor.

WV-Geschäftsführerin Jutta Lübbert hieß die virtuell Anwesenden willkommen und verdeutlichte gleich zu Beginn, wie sehr die Berufsorientierung in der Coronapandemie gelitten habe. Entsprechend spannend sei zu erfahren, bei wem die jungen Leute hauptsächlich Rat suchen und wer sie in ihrer Entscheidungsfindung beeinflusst: „Hier finden wir neben den jungen Menschen selbst, wichtige Impulsgebende, um die Jugendlichen für eine duale betriebliche Ausbildung  zu gewinnen.“, meinte Lübbert.

Für die Untersuchungen haben Christoph Schleer und sein Team keine Mühen gescheut: Allein in den vergangenen vier Jahren wurden 500 qualitative und 5000 quantitative Interviews geführt. Auch durften die Forscher in zahlreiche Jugendzimmer blicken und Fotos anfertigen, da in der Gestaltung der privaten Räumlichkeiten ebenfalls eine hohe Aussagekraft steckt. „Wir wollten schauen, wo und wie die Jugendlichen leben. Und ganz wichtig: ihnen zuhören“, erklärt Schleer.

Abseits aller Unterschiede ließen sich nach den Studien zunächst einige übergreifende Befunde konstatieren – wie etwa die Tatsache, dass die Berufswahl für junge Menschen eine schwere Entscheidung darstellt und sich nur eine Minderheit ihrer Sache schon frühzeitig sicher ist. „Oft beschäftigen sich die Jugendlichen erst kurz vor ihrem Schulabschluss ernsthaft mit beruflichen Optionen“, hält der Wissenschaftler fest. Als drei wesentliche Gründe hierfür nennt Schleer, dass die Berufswahl in jungen Jahren einfach noch kein dominantes Thema sei, dass Unsicherheiten hinsichtlich persönlicher Interessen und Fähigkeiten bestehen und die große Bandbreite an Möglichkeiten bisweilen zu einer Überforderung führe.

Geht es um Informationsquellen oder einen Austausch zum Thema Berufswahl, stehen die eigene Familie – insbesondere die Eltern – und die Schule allgemein hoch im Kurs. Grundsätzlich werden persönliche Gespräche dabei als besonders hilfreich wahrgenommen. Wichtig sei insofern auch mit Blick auf Angebote der Agentur für Arbeit oder der Unternehmen selbst, dass es feste Ansprechpersonen gibt, um ein notwendiges Maß an Vertrauen zu schaffen. Darüber hinaus seien es vor allem Praktika, die die Jugendlichen im Orientierungsprozess weiterbringen, erläutert Schleer. Bei den Motiven zur Berufswahl steht das Einkommen meist nicht an erster Stelle; vielmehr geht es darum, „Spaß an der Arbeit“ zu haben. Die einzelnen Kriterien sind allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Eine genauere Zuordnung wird durch die Aufteilung der Jugendlichen in sogenannte Sinus-Milieus ermöglicht: Gemeint ist damit die Gruppierung von Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln.

Sieben verschiedene „Typen“ an Jugendlichen konnten Christoph Schleer und seine Kolleginnen und Kollegen im Zuge der SINUS-Jugendstudie ausmachen: Die Spannweite reicht von den Traditionell-Bürgerlichen („natur- und heimatorientierte Familienmenschen mit starker Bodenhaftung“) über die Experimentalisten („spaß- und szeneorientierten Nonkonformisten mit Fokus auf das Leben im Hier und Jetzt“), die Postmateriellen („weltgewandte bildungsnahe Teenager-Bohemiens mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsempfinden“), die Prekären („um Orientierung und Teilhabe bemühte Jugendliche mit schwierigen Startvoraussetzungen und Durchbeißermentalität“), die Konsum-Materialisten („freizeit- und familienorientierte untere Mitte mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen“), die Adaptiv-Pragmatischen („leistungs- und familienorientierter Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft“) bis hin zu den Expeditiven („erfolgs- und lifestyleorientierte Networker auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen“).

Angesichts dieser Diversität unterstreicht Christoph Schleer die Notwendigkeit, junge Menschen zielgruppenspezifisch anzusprechen – auch, um hohen Abbrecherquoten im Ausbildungsbereich entgegenzuwirken. Betriebe sollten daher nicht nur auf Einstellungstests bauen, sondern sich gezielt mit den Interessen und den Persönlichkeiten der Jugendlichen auseinandersetzen. „Gespräche sind wichtiger als Tests“, brachte es Schleer im anschließenden Austausch mit den Teilnehmenden auf den Punkt.

Der Experte stellte zudem verschiedene Werbekampagnen zur Nachwuchsgewinnung vor, die speziell auf die verschiedenen Sinus-Milieus zugeschnitten sind. Die provokante, vorrangig an Konsum-Materialisten gerichtete Anzeige einer Metzgerei, die eine lässig wirkende junge Frau mit Sonnenbrille zusammen mit Schweinehälften im Kühlhaus zeigt und mit dem Slogan „Du willst mit coolen Säuen abhängen?“ versehen ist, brachte auch Jutta Lübbert zum Schmunzeln. Die WV-Geschäftsführerin bedankte sich für die Ausführungen – und hielt fest: „Es wird deutlich, wie differenziert Unternehmen denken müssen.“

Bildunterschrift: Jutta Lübbert, Geschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Grafschaft Bentheim und Dr. Christoph Schleer, Associate Director am SINUS-Institut in Heidelberg.

Bildquelle: Sebastian Hamel